Ausstellung

Ein Schiff Wird Nicht Kommen

14.11.2019 bis 5.5.2020 | Johann Jacobs Museum

Die Schweiz ist eine Seefahrernation und auf den Weltmeeren zuhause. Soviel belegen Filmaufnahmen, die in den 50er und 60er Jahren auf den Fahrten der „MS Basilea“ entstanden. Neben Gischt, Wolken und Wellentälern, neben Ladung wie Kaffee, Kakao oder einer Herde Wasserbüffel, dokumentieren die Bilder auch seltsame Begebenheiten an Land: Da steigt in Massawa (Eritrea) ein alternder Kaiser von einem russischen Kriegsschiff. Oder die schweizerische Crew erlebt im kulturrevolutionären China eine Parade, auf welcher der staunenden Menge Flugzeuge und Eisenbahnzüge (einstweilen) aus Pappe vorgeführt werden.

Das Filmdokument der „MS Basilea“ gibt uns Anlass zu fragen: nach Geschichten, die Schiffe schreiben. Dabei denken wir weniger an medial ausgeschlachtete Epen à la „Titanic“. Vielmehr gilt unser Interesse den kleinen Geschichten, den eher unscheinbaren Begebenheiten, die aber den Blick auf das grosse Ganze freigeben: auf die postkoloniale Kämpfe des afrikanischen Kontinents zu Zeiten des Kalten Krieges oder, im Falle Chinas, die zarten Anfänge der Weltmacht von morgen.

Gerahmt wird das Filmmaterial der „MS Basilea“ von künstlerischen Arbeiten. Sie erzählen vom Leben und Sterben auf dem Flüchtlingsschiff oder vom Versuch, das Gemälde „Floss der Medusa“ (1819) von Théodore Géricault mit zeitgenössischen Mitteln ins Bild zu setzen. Sie erzählen von der bedrückenden Einsamkeit auf einem modernen Containerschiff, von Winden und Meeresströmungen im Atlantik als klimatischer Bedingung des Sklavenhandels sowie vom Schiffsfriedhof in Gadani (Pakistan), wo die gewaltigen Stahlgefässe in ihre Einzelteile zerlegt und dem globalen Warenkreislauf wieder zugeführt werden.

Mit Arbeiten von Dias & Riedweg, Eza Komla, Hira Nabi, Dierk Schmidt, Allan Sekula und Adnan Softić. Die Anregung zur Sichtung der „MS Basilea“-Filme kam von Damian Christinger. Die kuratorische Betreuung lag bei Bettina Schuler (JJM) und Adnan Softić.

 

Titelbild: Werkdetail von Dierk Schmidt, Skizze zu SIEV-X, 2000. Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.

Veranstaltungsprogramm

Seereise mit ungewissem Ausgang

„Ein Schiff wird nicht kommen“ widmet sich dem Thema „Seereise mit ungewissem Ausgang“. Ein ungewisser Ausgang, das vorweg, muss kein katastrophischer sein. Vielleicht fährt ein Schiff dorthin, wo man nie hinwollte, wo es aber besser ist als am ursprünglich anpeilten Ziel. Oder das Schiff kommt nicht, um wen auch immer abzuholen, und auch das ist gut. Anders gesagt: Schiffe sind mit Hoffnungen verbunden, mit Unglück aber eben auch. Und es gibt natürlich die banalen Passagen, die langweiligen.

Installationsansicht, „Ein Schiff wird nicht kommen“, Johann Jacobs Museum, 2019.

Der Zufall spielte uns Filmmaterial von Schiffsreisen aus den 1960er Jahren in die Hände. Die 8mm-Technik war damals der letzte Schrei und verhalf dem home movie zum Durchbruch. Tatsächlich weist das footage eine gewisse Patina auf. Die Farben sind angegilbt und es dokumentiert, wie könnte es anders sein, die Welt von gestern: China ist noch keine Weltmacht, Hongkong hat noch keine Wolkenkratzer, Äthiopien hat noch einen Kaiser, der Kalte Krieg tobt, das Containerschiff ist noch nicht erfunden.

Das footage stammt von schweizerischen Seeleuten der 1941 gegründeten Handelsmarine. Die „Schweizer Flagge“ schmückte nicht allzu viele, aber doch einige Schiffe. Sie sollten im Krisenfall helfen, den kontinental eingezwängten Binnenstaat über die Wasserwege zu versorgen. Eines dieser Schiffe war die 1952 gebaute „MS Basilea“. In den Nachkriegsjahrzehnten war dieser Frachter mit seinen knapp 10’000 Tonnen Ladegewicht (er konnte ebenso Stück- wie Schüttgut transportieren) auf allen Weltmeeren zu Hause. Die „MS Basilea“ durchquerte den Sueskanal oder fuhr den Kongo hinauf, wurde im 6-Tage-Krieg vor Port Said beschossen und wartete wochenlang auf See, bevor sie den Hafen von Luanda im bürgerkriegsgeschüttelten Angola anlaufen durfte.

Einerseits ist das footage von der „MS Basilea“ ein zeitgeschichtliches Dokument. Andererseits stellte sich die Frage, ob es mehr ist als ein home movie, dessen Bestimmung in der privaten Vorführung liegt, das im Museum allerdings nichts zu suchen hat. Die Frage, ab welchem Punkt ein Dokument allgemeinen Stellenwert beanspruchen kann, lässt sich nicht umstandslos beantworten. Ab welchem Punkt befördert der „touristische Blick“, wie ihn das footage zeigt, so etwas wie eine historische oder politische oder auch ästhetische Erkenntnis? Ab welchem Punkt verkehrt sich die Aussenperspektive in eine Innenperspektive? Die Beantwortung dieser Frage hängt nicht nur vom Inhalt des Dokuments oder vom Gegenstand des footage ab, sondern ebenso von der Art seiner Aufbereitung, der Form seiner Präsentation.

MS Basilea Film Footage, (Standbild), 1960er. Private Sammlung.

In diesem Sinne haben wir das Material zunächst behutsam geschnitten und dabei jene fünf Episoden isoliert, von denen wir denken, dass sie einer eingehenden Betrachtung wert sind. Darüber hinaus haben wir Aufnahmen zusammenmontiert, welche die charakteristische Atmosphäre auf See, also das Zusammenspiel von Wellen, Wolken und schwankendem Schiff einfangen. Diese Aufnahmen werden im Museum auf eine grosse, quer durch den Raum gespannte Leinwand projiziert – so als wäre es möglich, durch ein Gemälde zu wandeln.

Die erwähnten fünf Episoden seien hier kurz umrissen. Es sind (1) der filmische Blick durch das Bullauge (der Fensterblick ist nun einmal ein Dauerbrenner der Kunstgeschichte); (2) die Darstellung des Be- und Entladens aller Arten von Waren; (3) der Austausch mit Frauen, die in Bangkok an Bord kommen, die die Seeleute aber auch mitnehmen ins Dorf zu ihren Familien; (4) die Visite des greisen Kaisers von Äthiopien auf einem russischen Kriegsschiff im Hafen von Massawa; und (5) eine Parade in der chinesischen Hafenmetropole Dalian zu Zeiten der Kulturrevolution.

MS Basilea Film Footage, (Standbild), 1960er. Private Sammlung.

Vom Bullaugenblick abgesehen, können all diese Episoden als zeitgeschichtliche Dokumente gelten. Es war selbstverständlich nie Anspruch des footage, die „grosse Geschichte“ erzählen zu wollen. Eher gewinnt man bei längerer Betrachtung den Eindruck, die Seeleute gerieten zufällig in Situationen (wie die kaiserliche Visite in Massawa) oder als sei ihr Leben auf See geprägt von einer eigenartigen Mischung aus neugierigem Begehren (der Besuch der thailändischen „Freundinnen“), Opportunitäten (wie die Verschiffung der Wasserbüffel nach Hongkong) oder Privilegien (wie die Möglichkeit als neutraler Schweizer im damaligen China an Land zu gehen und eine Parade filmen zu dürfen). Vermutlich sind „Zufälligkeiten“, „Begehren“, „Opportunitäten“ und „Privilegien“ auch Schlüsselbegriffe, um den Gang der „grossen Geschichte“ zu erfassen.

Zum footage von der „MS Basilea“ haben wir künstlerische Arbeiten gesellt, die das Thema „Schiff“ und „Schiffspassagen“ umkreisen. Vielleicht ähnelt unser Arrangement der Begegnung von Schiffen auf den Weiten des Ozeans oder innerhalb der Umfriedung eines Hafens.

Annäherungen an die historische Wahrheit

Detail, Théodore Géricault, Das Floss der Medusa, Öl auf Leinwand, 1819. Sammlung Louvre, Paris.

Im Jahre 1816 ereignete sich vor der Küste des Senegal eine folgenschwere Schiffskatastrophe. Die Fregatte „Medusa“ war auf Grund gelaufen. Ihr Kapitän samt den Offizieren eines Kontingents französischer Kolonialtruppen flüchtete sich auf die Rettungsboote; der Rest der Mannschaft, rund 150 Menschen, trieb ohne nennenswerte Vorräte knapp zwei Wochen lang auf einem hastig zusammengezimmerten Floss. Ursprünglich sollten die Rettungsboote das Floss hinter sich herziehen. Als die See aber zu stürmisch wurde, liess der Kapitän das Seil kappen. Die Szenen, die sich auf dem Floss abspielten, darunter Akte des Kannibalismus, übersteigen jede Vorstellungskraft. Als die Schiffbrüchigen schliesslich gerettet wurden, waren noch 15 von ihnen am Leben.

Théodore Géricault, Das Floss der Medusa, Öl auf Leinwand, 1819. Sammlung Louvre, Paris.

Das Schicksal des Flosses erregte damals die europäische Öffentlichkeit. Dem französischen Maler Théodore Géricault (1791–1824) fiel der Bericht eines Überlebenden in die Hände, dessen Schilderungen ihn tief beeindruckten und zu einem monumentalen Historiengemälde inspirierten. „Das Floss der Medusa“ (1819) erregte bei seiner Präsentation einen gewaltigen Skandal und hängt heute als ein Schlüsselwerk der Kunstgeschichte im Pariser Louvre.

Géricault hatte bei seiner Bildfindung nicht das Menschenschicksal als solches im Sinn. Ihm ging es um politisches Versagen, genauer: um das Versagen einer korrupten Elite, die mit der Restauration der Monarchie in Frankreich wieder an die Macht gekommen war und die sich, unter anderem, aktiv am Sklavenhandel beteiligte. „Das Floss der Medusa“ ist bei allem drastischen Realismus (so hatte sich der Maler zum genauen Studium Körperteile aus dem Leichenschauhaus besorgt) eine Allegorie der „schlechten Regierung“.

Not a Seascape

Dierk Schmidt, Xenophob – Schiffsbruchszene, gewidmet 353 ertrunkenen Asylsuchenden im indischen Ozean, 19. Oktober 2001, am Morgen; Öl auf Acryl auf PVC-Folie, aus dem Zyklus SIEV-X – Zu einem Fall von verschärfter Flüchtlingspolitik, 2001/02. Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.

Angesichts der Flüchtlingskatastrophen, die sich aktuell auf den Weltmeeren abspielen, machte sich der Maler Dierk Schmidt daran, das Vorgehen Géricaults in die Gegenwart zu übertragen. Dabei ging es ihm nicht um ein 1:1, also darum, eines der Schlauchboote von heute in die Rolle des Flosses von damals zu drängen.

Schmidt setzt bei seinem Bilderzyklus „SIEV-X – Zu einem Fall von verschärfter Flüchtlingspolitik“ (2001-2003) auf eine Form der malerischen Abstraktion, die Strukturen sichtbar macht. Es geht um jene Machtstrukturen, die den Katastrophen auf See zugrundeliegen: das unheilvolle Gemenge aus Schlepperbanden, wirtschaftlicher Abhängigkeit, Grenzziehungen, Wohlstandsgefälle, Rechtlosigkeit, bürokratischen Einsatzplänen und politischem Kalkül – das alles angereichert mit individueller Empathie, Indifferenz oder Zynismus. Lassen sich Machtstrukturen, die heute Libyen und das europäische Festland oder bei Schmidt das indonesische Inselreich und die australische Küstenwache oder bei Géricault den französischen Königshof und das koloniale Senegal verbinden, überhaupt ins Bild setzen? Lassen sie sich malen?

Dierk Schmidt, Not a Seascape (II), Ölskizze aus dem Bildzyklus SIEV-X – Zu einem Fall von verschärfter Flüchtlingspolitik, Öl auf Metallblech, 2001/02. Mit freundlicher Genehmigung von Ruth Noack.

Géricault wusste, was er zu malen hatte, und er wusste auch wie. Von der Katastrophe auf dem Floss gab es Augenzeugenberichte, ja der Maler kontaktierte die Überlebenden und liess sich von ihnen im Atelier beraten. Wie aber malt man ein Schiff, das auf der Überfahrt von Indonesien nach Australien kenterte und von dem es keinerlei Dokumentation gibt? Auf der kleinen Aluminiumtafel malt Schmidt als Vorstudie ein beliebiges Flüchtlingsboot. Für das eigentliche, aber unsichtbare Boot wählt der Maler einen schwarzen Untergrund. Die Unsichtbarkeit bildet gewissermassen den Bildträger seiner Malerei. Auf diesem schwarzen Grund trägt er dann Zeichen ein: Gesichter, Radarsignale, Teile der Reeling, ein Maschinengewehr (mit dem die Flüchtlinge in Indonesien auf das Boot genötigt wurden). Alles bleibt im Ungefähren, bis sich im Auge der Betrachter_in das Bild weiterentwickelt und allmählich vervollständigt.

Der Bilderzyklus „SIEV-X: Zu einem Fall von verschärfter Flüchtlingspolitik” von Dierk Schmidt ist äusserst umfangreich und befindet sich heute in der Sammlung des Städel in Frankfurt am Main. Wir zeigen in dieser Ausstellung drei Studien, die der Künstler im Rahmen seiner Forschung anfertigte. Auf dem Ölbild (unten) kontrastiert Schmidt zwei Hängungen von Géricaults „Das Floss der Medusa“: die ursprüngliche Hängung im Salon von 1819, wo das skandalträchtige Bild hoch oben unter der Decke platziert wurde, und die aktuelle Hängung, wie man sie auch auf einem der Videos in der Ausstellung erkennen kann.

Bibby Challenge
Adnan Softić, Bibby Challenge, Fotografie, 2015. Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.

Ein Mittelding zwischen Kreuzfahrtschiff und Containerschiff ist die „Bibby Challenge“, eine Art improvisiertes Heim auf dem Wasser, das die deutschen Behörden in Hamburg zur Aufnahme von Geflüchteten aus dem jugoslawischen Bürgerkrieg eingerichtet hatten.

Adnan Softić, Bibby Challenge, 2015. Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.

Der Künstler Adnan Softić lebte auf diesem Schiff, das mitten in der Stadt auf der Elbe vor Anker lag. In seiner Installation rekonstruiert Softić mit Tönen und Bildern einerseits die besondere Existenzform auf dem Schiff. Dessen sanftes Schaukeln erinnerte die Bewohner_innen bis in den Schlaf hinein an die Vorläufigkeit ihrer Unterbringung. Andererseits verortet Softić das Phänomen „Bibby Challenge“ in einer allgemeinen Bilderzählung von Schiffen und Schiffspassagen. Dabei geht es um das Schiff als Ort und Nicht-Ort zugleich – als ein schwimmendes, hochmobiles Etwas, das mit den Grenzen zwischen nationalen und internationalen Gewässern zu spielen weiss, allein weil die Erdoberfläche zu zwei Dritteln aus Wasser besteht.

Vorstellung von einem Land (Eweland)

Eza Komla, Vorstellung von einem Land (Eweland), Zeichnung auf Papier, 2019. Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.

Die Zeichnungen von Eza Komla sind Studien, Überlegungen, Modelle, um sich ein Bild zu machen von einer extrem komplexen Situation: der Situation der Ewe, eines Volkes, dessen primäres Siedlungsgebiet um den Fluss Volta (im heutigen Togo) liegt, das infolge des transatlantischen Sklavenhandels sowie unterschiedlicher Kolonialregimes in alle Windrichtungen verschleppt, verstreut, deportiert und umgesiedelt wurde. Die Zeichnungen sind zaghaft, fein, sie transportieren weniger die grosse Botschaft oder das grosse Narrativ, als dass sie einem Selbstgespräch ähneln: der (künstlerischen) Frage, wie stelle ich eigentlich etwas dar?

 

Eza Komla, Vorstellung von einem Land (Eweland), Zeichnung auf Papier, 2019. Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.

Die buntfarbigen Zeichnungen von Eza Komla sind Versuche, sich ein Bild zu machen: von historischen und aktuellen Migrations- und Deportationsrouten sowie von Warenströmen, die den afrikanischen Kontinent mit Asien, Europa und den Amerikas über Jahrhunderte verknüpfen. Am Herzen liegt dem Künstler insbesondere das Volk der Ewe. Dieses lebt entlang der ehemaligen „Sklavenküste“, auf den heutigen Staatsgebieten von Benin, Togo und Nigeria.

Die Ewe hatten verschiedene Kolonialregimes zu erdulden; sie waren deutsch sowie französisch und britisch besetzt. Es ist nicht eindeutig, ob sich die Geschichte eines Volkes auf der Basis einer Vielzahl versprengter Existenzen erzählen lässt, doch genau dieser Herausforderung stellt sich Ezas künstlerische Kartografie.

Zu den kartografischen Studien von Komla haben wir eine berühmte Weltkarte gehängt, die „Tabula Rogeriana“ („Karte von Roger“, gemeint ist der Normannenkönig Roger II. von Sizilien), an welcher der arabische Geograf Abu Abdullah Muhammad al-Idrisi al-Qurtubi al-Hasani as-Sabti, kurz: al-Idrisi, am Hof in Palermo viele Jahre lang zeichnete, bis sie 1154 vollendet war. Die Karte zeigt den gesamten eurasischen Kontinent und den Norden Afrikas in einer uns Heutigen eher unvertrauten Perspektive. Die Ortsangaben waren ursprünglich arabisch; das Original ist nicht erhalten. Das aufgeschlagene Buch gilt der „Voyage dans les Quatre Principales Îles des Mers d’Afrique [Reise zu den vier Hauptinseln des afrikanischen Kontinents]“ und stammt aus den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts. Das Buch stellt gewissermassen ein Verzeichnis dar; es schildert den afrikanischen Kontinent als ressourcenreiches Terrain, das es auszubeuten gilt.

 

La casa degli altri

Dias & Riedweg, „La casa degli altri“ (Das Haus der Anderen) (Standbild), Zweikanal Videoinstallation, 2017. Mit freundlicher Genehmigung der Künstler.

Eine Strassenszene nahe des römischen Bahnhofs Tiburtina. Im Schutz einer stattlichen Pinie haben afrikanische Geflüchtete ein Lager aufgeschlagen. Sie kochen, hängen Wäsche zum Trocknen auf, drücken die (provisorische) Schulbank und spielen Fussball. Der Ort ist verwahrlost, alte Matratzen liegen herum oder kaputte Kinderwagen, kurz: westlicher Wohlstandsmüll. Es deutet sich aber an, dass die Neuankömmlinge diese Dinge zu verwenden und einem neuen Zweck zuzuführen wissen, so als machte Not erfinderisch, während Wohlstand korrumpiert. Zeit vergeht, mächtige Vogelschwärme ziehen über den Himmel, die Vögel kennen keine Grenzen.

Der Blick, den Dias & Riedweg auf das improvisierte Habitat werfen, ähnelt dem Blick der Schweizer Seeleute. Die Kamera beobachtet und fängt ein, macht aber keinen Versuch die Szene zu durchdringen. Henri Dunant (1828-1910), der Gründer des „Roten Kreuzes“, sprach vom „Touristenblick“, als er 1829 das Schlachtfeld von Solferino in Norditalien mit seinen wimmernden Verwundeten und Toten in Augenschein nahm. Diese Erfahrung machte aus dem Unternehmer einen Sozialaktivisten und trug zur Begründung des schweizerischen Staatsmythos bei: dem humanitären Auftrag, nicht nur für eine Seite, sondern für beide Seiten da zu sein, und selbst neutral zu bleiben.

All That Perishes At The Edge of Land

In Chittagong (Bangladesch), Gujarat (Indien) und Gadani (Pakistan) existieren informelle Schiffsfriedhöfe, wo die monumentalen Tanker und Containerschiffe verschrottet oder, genauer, in ihre Einzelteile zerlegt werden. Möglich ist dies nur in kollektiver Handarbeit, die, wie man sich denken kann, unter extrem prekären Bedingungen, bei schlechter Bezahlung und zu gravierenden ökologischen Kosten erfolgt. Die noch brauchbaren Materialien (wie Kupfer) werden dem globalen Warenkreislauf wieder zugeführt, das heisst sie kommen dem Land selbst, in diesem Fall Pakistan, nicht zugute.

 

Der Kontrast zwischen dem wütenden Hämmern und Zischen der Schweissbrenner auf der Verschrottungswerft in Gadani und der kleinen Porzellanschale aus Meissen (18. Jh.) könnte kaum grösser sein. Und doch sind sich die beiden Schauplätze nahe. Die Schale zeigt den Warenumschlag von Dschunken auf ozeantaugliche Segelschiffe, vielleicht an der Mündung des Perlflusses – dort, wo bald die koloniale Hafenmetropole Hongkong entstehen wird.

Saigō Takamori und die Modernisierung Japans

Der Legende nach endete das alte Japan 1853 mit der Ankunft der „schwarzen Schiffe“ unter Führung des US-amerikanischen Commodore Perry in der Bucht von Edo (dem heutigen Tokyo). Unter sanfter Androhung von Waffengewalt nötigten die Westmächte Japan zur Öffnung seiner Häfen für den Handel. Die Japaner hatten die Kolonisierung Chinas direkt vor Augen und hegten keinerlei Zweifel am Ernst der Lage.

Yoshitoshi Tsukioka, Der Selbstmord von Saigo Takamori, (Saigo Takamori Seppuki (no) Zu, Farbholzschnitt, Oban Triptychon, Japan, 1877. Sammlung Johann Jacobs Museum, Zürich.

In einem politischen Willensakt sondergleichen, der sogenannten „Meiji-Restauration“ (die tatsächlich eine Revolution war), entschloss sich die Elite des Landes zu einer radikalen Modernisierung sämtlicher Bereiche des japanischen Lebens. Die militärische Technologie spielte dabei eine Schlüsselrolle.

Saigō Takamori gilt als der „letzte grosse Samurai“, das heisst als letzter Spross jener Kriegerkaste, die Opfer der Modernisierung wurde. Zunächst ein wichtiger Fürsprecher der „Meiji-Restauration“, entfremdete sich Saigō allmählich vom Reformprozess. Er zog sich zurück in seine Heimatprovinz Satsuma und startete von dort aus gegen die Regierung eine Rebellion, die aber niedergeschlagen wurde. Über seinen Tod kursierten alle möglichen Gerüchte. Der Künstler Yoshitoshi Tsukioka (1835– 92), auch er ein „letzter Grosser“, allerdings der japanischen Holzschnittkunst, inszeniert Saigōs Ableben standesgemäss als rituellen Selbstmord.

Ausstellungsansicht. Johann Jacobs Museum.

Die militärische Modernisierung, der sich Japan in Folge der „Meiji-Restauration“ unterzog, fand ihren Höhepunkt im Dezember 1941 mit der Zerstörung der pazifischen US Flotte, die in Hawai’i stationiert war. Bereits 1904/5 hatten japanische Truppen das russische Grossreich geschlagen – in einem Krieg, der um Korea und die Mandschurei entbrannt war. Für die westliche Öffentlichkeit war diese Niederlage ein Schock. Das Video von Montemajor schildert den Angriff auf Pearl Harbor aus japanischer Perspektive.

Programm Kulturrevolution

MS Basilea Film Footage, (Standbild), 1960er. Private Sammlung.

500 Tonnen Bohnen, hunderte Musikinstrumente, unzählige Spielkarten und 150 Tonnen menschliches Haar wurden 1973 bei der Kollision der „MS Basilea“ mit einem russischen Tanker zerstört. Die Schiffsladung kam direkt aus Shanghai – einem der fünf sogenannten „Vertragshäfen“, die 1842 im Zuge des Ersten Opiumkriegs von den westlichen Mächten etabliert wurden. Das ehemalige Fischerdorf im Jangtse-Delta wurde damals in autonome Zonen aufgeteilt, die von Franzosen, Briten und Amerikanern verwaltet wurden. Mit der kolonialen Präsenz wurde Shanghai zu einem Knotenpunkt von Migration, Industrie und Handel. Als die „MS Basilea“ in den 1960er und 1970er Jahren nach Shanghai fuhr, hatte sich das Bild der internationalen Metropole radikal gewandelt. Nach dem Bürgerkrieg, den die Kommunisten 1946 für sich entscheiden konnten, befand sich China nun inmitten einer Kulturrevolution. Grossstädte wie Shanghai standen am Rande der Anarchie. Die Ideen hinter der Kulturrevolution – das Ganze war eine breit angelegte politische Mobilisierung, die Maos Autorität stärken sollte – wendeten sich gegen „imperialistische, dekadente und korrupte bürgerliche Elemente“ in der chinesischen Regierung und Gesellschaft. Es ging mit anderen Worten darum, den revolutionären Geist des

MS Basilea Film Footage, (Standbild), 1960er. Private Sammlung.

Bürgerkriegs wiederzubeleben und die chinesische Gesellschaft endgültig von den sogenannten „Vier Alten“ zu reinigen: den alten Bräuchen, der alten Kultur, den alten Gewohnheiten und alten Ideen. Mao hatte das Programm einer solchen „Kulturrevolution“ bereits in den 1920er Jahren entworfen, bis dahin aber lediglich in kleinen Schritten umsetzen können. Ein Jahr, nachdem Mao alle Schulen des Landes schliessen liess und die Jugend dazu aufgefordert hatte, sämtliche un- oder anti-kommunistischen Elemente der Gesellschaft zu denunzieren und zu liquidieren, geriet die Mannschaft der „MS Basilea“ in der Hafenstadt Dalian in eine sorgfältig choreografierte Inszenierung von kollektiver Macht und revolutionärem Furor. Diese Parade ähnelt in mancher Hinsicht der Parade zur 70-Jahrfeier der Volksrepublik China, die kürzlich durch die Medien geisterte. Nur waren damals die Flugzeuge und Eisenbahnzüge aus Pappe und es gab noch keine Ultraschallbomber und Interkontinentalraketen.

Zwischen den Frontlinien: Massawa

Als der italienische Diktator Mussolini im Jahr 1935 das äthiopische Reich zu kolonialisieren begann, erhielt „Äthiopien“ eine neue Bedeutung. Zuvor war „Äthiopien“ eher ein Konzept – ein sagenumwobenes Imperium, das in grauer Vorzeit existierte und aus der Verbindung von König Salomo mit der Königin von Saba hervorgegangen war. Nun aber, unter dem aktuellen Druck des militärischen Überfalls, wurde aus dem Reich der Sage ein konkreter Ort – der Schauplatz des Kampfes für die afrikanische Einheit und die Emanzipation von den westlichen Unterdrückern. Nach der Schlacht von Adwa im Jahr 1896 – einem der ersten und spektakulärsten Siege der Afrikaner_innen über eine europäische Macht (Italien) – hatte sich Äthiopien (oder Abessinien, wie es damals genannt wurde) einen besonderen Ruf erworben. Aussergewöhnlich schienen nicht nur die dynastische Geschichte und frühchristliche Kultur des afrikanischen Reiches, sondern auch die Figur seines Herrschers, Haile Selassie.

MS Basilea Film Footage, (Standbild), 1960er. Private Sammlung.

Nach Haile Selassies Krönung im Jahr 1930 kam es zu einer regelrechten Bilderflut mit Darstellungen des Potentaten. Diese Bilder fanden ihren Weg über den Atlantik; sie verbreiteten sich in der Karibik ebenso wie im New Yorker Harlem. Der äthiopische Kaiser wurde in die Rolle einer Lichtgestalt und Erlöserfigur gedrängt, nicht zuletzt wegen der damals herrschenden wirtschaftlichen Depression, welche die afrikanische Diaspora besonders hart traf. Die Figur des Kaisers inspirierte in der Karibik eine religiöse Bewegung, die Rastafari, deren Name abgeleitet ist von Haile Selassies Geburtsname: Ras Tafari Makonnen. Der Musiker Bob Marley sollte zu einem der bedeutendsten Vertreter dieser Bewegung werden, die sich von Haile Selassie Frieden und Wohlstand versprach. Haile Selassie-Darstellungen wurden auf Jamaika als Ikonen verehrt. Von ihnen ging aber nicht nur eine spirituelle Wirkung aus. Es hiess, dass sie auch als Fahrkarten Gültigkeit hätten – für die Seepassage nach Massawa, einem Hafen am Roten Meer, der nach dem Zusammenschluss von Äthiopien und Eritrea in den 1950er Jahren dem Kaiserreich zugesprochen wurde. In Massawa rief Selassie 1955 Äthiopiens kaiserliche Marine ins Leben. Hier begegnete ihm auch die Crew der „MS Basilea“.

Bo’sun betätigt die Seilwinde

Allan Sekula, Bo’sun Driving the Forward Winch, Cibachromdruck auf Dibond aufgezogen, Holzrahmen, 1993. Sammlung Johann Jacobs Museum.

Der Künstler Allan Sekula (1951–2013) widmete dem Ozean und dem maritimen Leben Jahre seines Lebens. Seine Reisen, fotografischen und filmischen Reportagen, das alles verbunden mit essayistischen Texten, mündeten in das opus magnum „Fish Story“ (1995), eine der wichtigsten künstlerischen Arbeiten der letzten Jahrzehnte. Das hier gezeigte Foto „Bo’sun Driving the Forward Winch [Bo’sun betätigt die Seilwinde]“ (1993) entstammt der „Fish Story“, Sekulas Dokumentation vom „Meer als den vergessenen Raum der Moderne“. Das Foto erinnert an jene Typen („der Bäcker“, „der Matrose“ usw.), die der deutsche Fotograf August Sander im „Antlitz der Zeit“ (1929) festhielt. Während es Sander um eine soziologische Erfassung der Individuen und ihrer Rolle in der modernen Gesellschaft ging, erlaubt Sekula seinem „Modell“ Freiheiten: Bo’sun, eingezwängt zwischen Maschinen, schaltet und waltet, kehrt uns aber auch den Rücken zu.

Thurgau - Brasilien

Willhelm Gaensly, Europäische Einwanderer posieren für ein Foto im zentralen Innenhof des Hospedaria dos Imigrantes in São Paulo, Fotografie, 1890, São Paulo, Fundação Patrimônio da Energia de São Paulo – Memorial do Imigrante.

Wilhelm Gaensly (1843–1928) stammt aus dem Thurgau und wanderte als Kind mit seiner Familie nach Brasilien aus. Er lebte zunächst in Salvador, wo er bei einem Porträtfotografen in die Lehre ging. Als der Kaffeeboom in den 1890er Jahren Brasilien erfasste, siedelte Gaensly mit seinem Studio in die rasch wachsende Metropole São Paulo um. Berühmt sind seine Landschaftspanoramen mit Kaffeeplantagen, seine Dokumentationen über den Einzug moderner Infrastruktur (wie Eisenbahnbau und Elektrifizierung) sowie seine Gruppenaufnahmen italienischer Einwandererfamilien, die eben in Santos (dem Hafen von São Paulo) angekommen sind. Das vorliegende Bild zeigt eine solche Gruppenaufnahme, die Raum lässt für spontane Momente: Das barfüssige Mädchen links im Vordergrund wagt sich weiter vor als die skeptischen Erwachsenen; das Spiel ihrer Hände aber verrät eine gewisse Verlegenheit angesichts der völlig neuen Situation auf dem fremden Kontinent. Die zankenden Buben (rechts im Bild) wiederum sind mehr mit sich beschäftigt als mit dem fotografischen Augenblick, der damals nicht so gewöhnlich war wie er heute ist.

Dampfmaschinen und Rohstoffe

Anfang der 1930er Jahre entwickelte Alfonso Bialetti die Caffettiera. Das Gerät ist eine kleine Dampfmaschine und wenigstens metaphorisch den treibenden Kräften der industriellen Revolution verwandt. Es verlängert, soviel verraten Material (eine Aluminiumlegierung) und Formgebung, den Arm der Moderne in den einzelnen italienischen Haushalt hinein, der mittels Kaffee auf Trab gehalten wird. Ein ganz anderes Tempo legen die beiden Meissener Skulpturengruppen aus Porzellan an den Tag: hier herrscht aristokratische Trägheit oder, freundlicher gesagt, Musse. Das „indianische Liebespaar“ (frühes 18. Jahrhundert) von Johann Joachim Kaendler zeigt Mann und Frau beim zärtlichen Geplänkel mit Mandoline, Papagei und Schachbrett (auf das die Frau ihren Fuss setzt). Der Begriff „indianisch“ bezieht sich auf alles, was jenseits von Indien liegt, etwa die japanischen Blumen auf dem Kimono der Frau sowie den „Chinesenhut“ des Mannes. Die aristokratische Dame, deren gelbe Schleife auf der Brust sie als Freimaurerin ausweist, lässt sich den Kaffee von einem „Mohren“ servieren. Vertreter der afrikanischen Diaspora waren keine Seltenheit an europäischen Fürstenhöfen. Sie gehörten, etwa in der Funktion als Kammerdiener, zur Ästhetik der „Wunderkammer“ oder, genauer, zur Vorstellung, dass am Fürstenhof die Welt im Ganzen versammelt ist. Die Kette in der Caffettiera stammt aus Guinea an der afrikanischen Westküste. Die Handelsperlen sind aus Bauxit, heute einer der begehrtesten Rohstoffe der Region, aus dem Aluminium hergestellt wird. Guinea verfügt über die weltgrössten Bauxitvorkommen, ist aber eines der ärmsten Länder der Welt.