Ausstellung

Die Haitian Rushes von Maya Deren

1.10.2015 bis 17.1.2016 | Johann Jacobs Museum

Maya Deren (1917-1961) gilt als die bedeutendste Avantgarde-Filmemacherin des 20. Jahrhunderts. Ihr Meshes of the Afternoon (1943, gedreht mit Alexander Hammid) ist aus dem modernistischen Kanon nicht wegzudenken.

Zwischen 1947 und 1955 begab sich Deren mehrere Male nach Haiti, um Tanz und Trance im Rahmen von Voudoun-Ritualen zu studieren. Die rund 6 Stunden Rohfilm, die auf Haiti entstanden sind, hat die KĂŒnstlerin selbst nicht mehr geschnitten und montiert. Das Material gibt aber Hinweise auf den seltenen Balanceakt, der Derens Kamera gelang: weder erstarrt der Film in der Distanziertheit anthropologischer Betrachtung noch kollabiert er in romantischer Überidentifizierung.

In Kooperation mit dem Anthology Film Archives (New York) und der Filmemacherin Martina Kudláček (Wien) unternimmt das Johann Jacobs Museum die Restaurierung dieses nahezu unbekannten Materials. Daneben kartografiert die Kulturanthropologin Silvy Chakkalakal (Basel) den kĂŒnstlerisch-wissenschaftlichen Zusammenhang, in dem Derens Haitian Rushes stehen. So liess sich Deren von dem ethnografischen Filmmaterial ĂŒber kollektive Trancerituale, religiöse Zeremonien und das Tanzenlernen der Kinder inspirieren, das Margaret Mead und Gregory Bateson aus Bali mitgebracht hatten.

In dieser ersten Ausstellung zu Deren werden wie bei einer Versuchsanordnung die Materialien und Formen ausgebreitet, die zum VerstÀndnis der Haitian Rushes und der Filmsprache von Maya Deren unverzichtbar sind.

Veranstaltungsprogramm

Mead, Bateson und die visuelle Anthropologie

Margaret Mead und Gregory Bateson gelten als Pioniere der „Visual Anthropology“. Bei ihrer Feldforschung auf Bali in den 1930er Jahren verwendeten sie erstmals systematisch Fotografie und Film. Kultur interpretierten sie als ein sinnlich- harmonisches Ganzes, das sich nicht allein mit Texten und Zahlen erfassen lĂ€sst, sondern genuin Ă€sthetischer Zugangsweisen bedarf. ‹Ein bevorzugtes Studienobjekt von Mead und Bateson waren rituelle Trancehandlungen und TĂ€nze, weil sich in diesen die enge Verbindung zwischen dem einzelnen Körper und der Gesamtheit einer Kultur offenbart. Trotz des Ă€sthetischen ZugestĂ€ndnisses gaben die beiden die Rolle des unbeteiligten Beobachters jedoch nie auf.

In Vorbereitung ihrer Haiti-Reise sichtete Maya Deren das gesamte Bali-Filmmaterial (mehr als 12 Stunden) und hielt ihre EindrĂŒcke und Überlegungen dazu schriftlich fest. WĂ€hrend Mead und Bateson die photographische Aufzeichnung in den Dienst der Abbildung einer gegebenen RealitĂ€t stellten, lag fĂŒr Deren das Vermögen des Mediums „Film“ darin eine neue RealitĂ€t zu schaffen.

„And on the way back that whole discussion with S. who‹said maybe I would eventually abandon film and become an anthropologist. And my insistence that I would never be satisfied analyzing the nature of a given reality but would want to make my own. And his answer that that attitude brought to anthropology might make a new branch of it. And my answer that perhaphs in introducing the anthroplogical attitude into film I was making a new branch of film. Well—maybe…“ (Maya Deren, Notebooks, Feb. 23, 1947)

Haiti – Paradies und Hölle der neuen Welt

Der Historiker Bryan Edwards wurde im September 1791, kurz nach Ausbruch der SklavenaufstĂ€nde auf St. Domingue, vom britischen Innenministerium in die französische Kolonie abgesandt; er sollte ĂŒber die Lage auf der Insel Bericht erstatten und ermitteln, ob die französischen Kolonisten eine potentielle Invasion durch die Briten begrĂŒssen wĂŒrden.

St. Domingue, das heutige Haiti, war vom spĂ€ten 17. bis zum Beginn des ‹18. Jahrhunderts als „Paradies der neuen Welt“ bekannt. Die fruchtbare Erde, das warme, von Bergen geschĂŒtzte Klima der KĂŒstenregionen und die Dichte an SĂŒsswasserquellen boten idealste Bedingungen fĂŒr den Anbau begehrter Rohstoffe. Fast die HĂ€lfte des europaweit konsumierten Zuckers und 60% des Kaffees stammte von Plantagen auf St. Domingue. Auch in der Produktion von Baumwolle und Indigo war die Kolonie weltmarktfĂŒhrend, und machte Frankreich zum Besitzer einer der lukrativsten Kolonien ihrer Zeit. Die enorme Produktion konnte nur durch die Arbeit von Sklaven geschaffen und aufrechterhalten werden. In Zeiten der Hochkonjunktur wurden bis zu 40’000 Zwangsarbeiter aus Westafrika nach St. Domingue importiert. Ihre Lebenserwartung auf den Plantagen betrug etwa 6 Jahre.‹ Im Jahre 1790 lebten laut Edwards 30’831 weisse EuropĂ€er, ca. 480’000 versklavte Afrikaner und 20’000 ‚people of colour‘ (Menschen gemischter Abstammung) auf St. Domingue. Diese ‚people of colour‘ bildeten eine spezielle Gesellschaftsklasse, da sie als ‚freie Farbige‘ Grund und Sklaven besitzen und ihre eigenen Plantagen betreiben durften. Viele von ihnen gelangten zu beachtlichem Wohlstand und wurden von den Weissen und Schwarzen darum beneidet. Sie hatten aber keinerlei Rechte, kein Recht auf eine Ausbildung in der Kolonie, sie durften keine öffentlichen oder politischen Ämter bekleiden oder sich an Wahlen beteiligen.

Bryan Edwards, An Historical Survey Of The French Colony In The Island of St. Domingue: Comprehending a Short Account Of Its Ancient Government, Political State, Population, Productions, And Exports; A Narrative Of The Calamities Which Have Desolated The Country Ever Since The Year 1789, With Some Reflections On Their Causes And Probable Consequences; And A Detail Of The Military Transactions Of The British Army In That Island To The End of 1794, Printed for John Stockdale, London 1797.

Als Edwards in St. Domingue ankommt, liegt das einstige Inselparadies in Schutt und Asche. Die Plantagenbesitzer und französischen Abgeordneten leben in Angst vor den ÜberfĂ€llen der Rebellen, deren Hass auf ihre UnterdrĂŒcker sich in brutalen Massakern entlĂ€dt. Schockiert ĂŒber die herrschenden ZustĂ€nde revidiert Edwards seinen ursprĂŒnglichen Auftrag, den Puls der Kolonisten zu fĂŒhlen. Stattdessen unternimmt er den Versuch, die Ursachen des Elends zu analysieren. Er beschreibt, welche Komplikationen die französische Revolution fĂŒr die französische Kolonialpolitik mit sich brachte, weil die Ideale von „Freiheit, Gleichheit und BrĂŒderlichkeit“ mit einer Wirtschaft unvereinbar waren, die auf der institutionalisierten Sklaverei fusste.

Edwards fĂŒhrt das Beispiel von Vincent OgĂ© an, der als Sohn eines weissen Farmers und einer freien Farbigen 1755 in St. Domingue geboren wurde und eine gute Ausbildung in Bordeaux genossen hatte. OgĂ© war bei Ausbruch der Französischen Revolution 1789 in Paris zugegen. UnterstĂŒtzt von der SociĂ©tĂ© des Amis des Noirs und anderen Farbigen seines Standes, versuchte er bei der Nationalversammlung ein Gesetz durchzubringen, welches den farbigen Grundbesitzern auf St. Domingue dieselben Rechte wie den weissen Plantagenbesitzern einrĂ€umte.

TatsĂ€chlich erliess die Nationalversammlung im MĂ€rz 1790 ein Dekret, das von mehr Rechten fĂŒr die freie, farbige Bevölkerung sprach, es aber vermied, klar zu formulieren, wer in der Kolonie wahlberechtigt sein sollte und ob sich das Dekret auf ‚freie Farbige‘ erstreckte. ‹In der Überzeugung, dass ihm ein entscheidender politischer Fortschritt gelungen war, kehrte OgĂ© im Oktober 1790 auf die Insel zurĂŒck und musste festzustellen, dass die lokale Regierung die Umsetzung des Dekrets verweigerte. Darauf organisierte er mit etwa 300 anderen freien men of colour einen Angriff auf die Herren der Kolonialversammlung, um seine Anliegen gewaltsam durchzusetzen. Doch der Aufstand wĂ€hrte nur kurz. OgĂ© und seine AnhĂ€nger gerieten bald in Gefangenschaft und wurden im Februar 1791 auf dem Platz von Le Cap durch das Rad öffentlich hingerichtet. In den Monaten darauf kamen aus Frankreich noch weitere Dekrete und ErlĂ€sse, die aufgrund ihrer UnvertrĂ€glichkeit mit der Sklavenwirtschaft die Krise in St. Domingue nur verstĂ€rkten.

Mit dem Beispiel von OgĂ© zeigt Edwards, dass nicht nur die gespaltene Aussenpolitik Frankreichs die Krise beförderte, sondern auch das GefĂ€lle zwischen den lokalen gesellschaftlichen Klassen. Zwar ging der Ausbruch der haitianischen Revolution im August 1791 als erster geglĂŒckter Sklavenaufstand in die Geschichte ein. Doch wurde dieser Krieg, der mit der GrĂŒndung der Republik Haiti 1804 endete, nicht zwischen klaren Fronten aus Schwarzen und Weissen, Sklaven und freien Menschen gefĂŒhrt. Es war ein blutiger BĂŒrgerkrieg, der zudem durch die Interventionen der Armeen und Söldnertrupps der KolonialmĂ€chte verstĂ€rkt und verlĂ€ngert wurde.

Ikone der Revolution

Aus der Haitianischen Verfassung von 1805

Rekonstruiertes Bild der Schwarzen Madonna von Częstochowa (15. Jahrhundert)

In der Vodoun-Ikonographie spielt die legendĂ€re „Schwarze Madonna von Częstochowa“, eine polnische Marienikone aus dem 14. Jahrhundert mit dunkler Gesichtsfarbe und tiefen Einschnitten auf der rechten Wange, eine gewichtige Rolle. Im HandgepĂ€ck polnischer Söldnerheere war sie 1802 nach Haiti migriert. Napoleon hatte dieses Söldnerheer seinen Truppen zur Seite gestellt, um den ersten erfolgreichen Sklavenaufstand in der modernen Kolonialgeschichte niederzuschlagen – einen Sklavenaufstand, der wiederum von den Idealen der Französischen Revolution inspiriert war.

Privilegierte Mulatten, von ihren französischen VĂ€tern zum Studium nach Paris geschickt, hatten an der Sorbonne Wind bekommen von „Freiheit, Gleichheit, BrĂŒderlichkeit“, und diese Prinzipien auf die MissstĂ€nde der haitianischen Sklavenhaltergesellschaft umzulegen gesucht.‹ FĂŒr eine wirkliche Revolution war aber noch der zĂŒndende Funke notwendig, den ein militantes Vodoun-Geistwesen namens Erzulie Dantor beisteuerte. WĂ€hrend einer Zeremonie ergriff Erzulie Dantor Besitz von einer Priesterin und rief zum Kampf auf.

Nach verheerenden Niederlagen des napoleonischen Heeres liefen die polnische Söldner schliesslich ĂŒber und schlossen sich den Sklaven oder neuen Herren an. Seitdem trĂ€gt Erzulie Dantor neben dem Schwert und‹ dem durchbohrten Herz, ihren zentralen Symbolen, auch die markanten Gesichtsnarben der „schwarzen Madonna“. Die haitianische Legende besagt, dass sich Erzulie die Narben im Kampf gegen die Franzosen zugezogen hat. Noch heute leben Nachfahren der „Polonais“ auf Haiti.

Kulturrelativismus & Harlem Renaissance

Im rezessionsgeprĂ€gten New York der 1920-40er Jahre bildete sich im Umfeld von Franz Boas ein lebendiger Kreis von politisch aktiven Wissenschaftlern, Literaten und KĂŒnstlern. Zu ihnen gehörten Ruth Benedict, Margaret Mead, Gregory Bateson, Zora Neale Hurston und Maya Deren. Sie alle teilten den Boas’schen „Kulturrelativismus“, dem zufolge die westliche Kultur als universeller Massstab ausgedient hatte. Stattdessen bringe jede Gesellschaft ihr eigenes Normen- und Wertesysteme hervor. Das besondere Interesse dieses Kreises galt dem formal-gestalterischen Ausdruck. Rituelle AuffĂŒhrungen, TĂ€nze und Zeremonien sollten nicht nur anthropologisch erforscht und beschrieben, sondern auch in eigene Choreographien, ErzĂ€hlungen und Spielfilme eingearbeitet werden.

Mit dieser Begeisterung fĂŒr das kulturell Fremde ging die Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Normen und Ausschlussmechanismen der US-amerikanischen Gesellschaft einher. Die sinnliche Körperlichkeit des Tanzes sowie die spirituelle Versunkenheit der Trance wurden einer ganzheitlichen, schöpferischen und sexuell befreiten Lebenspraxis zugesprochen, die im Gegensatz zum rationalitĂ€tsdurchtrĂ€nkten modernen Leben im Westen stand.

Eine gegenkulturelle Perspektive vertraten auch die afro-amerikanischen Schriftsteller und Intellektuellen der „Harlem Renaissance“, die sich fĂŒr eine Aufwertung der schwarzen Kultur in den USA einsetzten. Hurstons ethnographische Forschungen zu den Hoodoo-Praktiken in den SĂŒdstaaten und ihr berĂŒhmtes Radio-Interview zum Zombie sind durchaus politisch konnotiert.

Haiti, von den USA im Ersten Weltkrieg aus strategischen GrĂŒnden besetzt, konnte fĂŒr die gegenkulturellen EntwĂŒrfe von zentraler Bedeutung werden, weil sich am Schicksal der Insel exemplarisch die Geschichte der Sklaverei sowie die andauernde politische und kulturelle UnterdrĂŒckung der schwarzen Bevölkerung demonstrieren liess. Bei den Feldforschungen, die Katherine Dunham, Alan Lomax, Hurston oder Deren unternahmen, ging es tatsĂ€chlich immer auch darum den Marginalisierten ihre WĂŒrde und Stimme zu belassen.

Alan Lomax Haiti Collection: Sixty 10-inch disc of songs, stories, and instrumentals recorded in Haiti by Alan Lomax (Dec. 1936, Jan. 1937).

Alan Lomax, ein junger Folklore- und Musikwissenschaftler, wurde 1936 von der etablierten Anthropologin und Schriftstellerin Zora Neale Hurston angeworben, um eine reprÀsentative Sammlung Haitianischer Musik anzulegen.

Vodoun war bis in die 1950er Jahre hinein verboten. Trotzdem gelang es Lomax an heimlichen Vodoun-Zermonien teilzunehmen und rituelle GesÀnge und Rhythmen aufzunehmen. Seine eigentliche Leidenschaft jedoch galt den Liedern armer Arbeiter, die er nicht frei von rassistischen Stereotypen beschrieb:

„… two stevedores leap into a corner where one picks up a little iron pipe or vaxine and the other a pair of rocks. The first man blows his pipe and the other cracks the flints together, and presently ten men are capering together on the floor of the warehouse… The men roar at each other like demons, and their backs creak under the awkward sacks. They dance and fling about like monkeys for an hour with never a pause, and suddenly you look up and the great stack of coffee has moved to the other side of the warehouse…“ (Alan Lomax, 1938)

Videostill aus ‚Meditation on Violence‘ von Maya Deren, schwarzweiss, 16mm, 15Min, 1948.

Der TĂ€nzer im Trancezustand, der Besessene und der Zombie – allesamt anthropologische Figuren – fanden rasch Eingang ‹in die moderne Mythenfabrik von Hollywood.‹ Katherine Dunham war Anthropologin und Choreographin. Jene Tanzbewegungen, die sie auf Haiti, Martinique und Jamaica studiert hatte, baute sie in ihre eigenen Revuen ein.

Maya Deren arbeitet Anfang der 1940er Jahre bei Dunham als deren PrivatsekretÀrin.

Maya Deren auf Haiti

I.

„Im September 1947 ging ich in Haiti von Bord, um fĂŒr acht Monate zu bleiben. Mein GepĂ€ck bestand aus 18 Koffern und Kisten, von denen sieben einer 16mm-FilmausrĂŒstung (drei Kameras, Stative, Rohfilm usw.) vorbehalten waren, drei die GerĂ€tschaften fĂŒr Tonaufnahmen enthielten, und drei weitere eine FotoausrĂŒstung bargen. Unter meinen Papieren befand sich die Bescheinigung ĂŒber ein John Simon Guggenheim-Fellowship fĂŒr „kreative Arbeit im Spielfilmbereich“ (in Abgrenzung zum Dokumentarfilm). Mit diesem Fellowship wurden meine Anstrengungen honoriert in einem Feld, das vom kommerziellen Film und vom Dokumentarfilm bestimmt ist, vier Filme zu produzieren und erfolgreich zu vertreiben, und das mit Ă€usserst bescheidenen, rein privaten Mitteln. Unter meinen Papieren befand sich auch der sorgfĂ€ltig ausgearbeitete Entwurf fĂŒr einen Film. Die Idee war haitianischen Tanz, betrachtet unter rein formalen Gesichtspunkten, mit verschiedenen nicht-haitianischen Elementen (auf der Basis des Montageprinzips) zu verknĂŒpfen. Ich erwĂ€hne das hier, um deutlich zu machen, das es ganz am Anfang ein klar umrissenes Filmprojekt gab. Dieses Projekt entstammte darĂŒberhinaus der Feder eines Individuums, das als energisch und dickköpfig bekannt ist.

Heute nun, im September 1951 (also vier Jahre und drei Haiti-Reisen spĂ€ter), wĂ€hrend ich an den letzten Seiten dieses Buches sitze, liegt das gefilmte Material (das mehr Zeremonien als TĂ€nze zeigt) noch immer nahezu unberĂŒhrt in einer feuersicheren Kiste im Schrank. Dasselbe gilt von den Tonaufnahmen, die noch nicht abgespult sind, und von jenem Stapel an Fotografien, der in einer Lade steckt, die mit der Aufschrift “Ausarbeiten” versehen ist. Der ausgetĂŒftelte Entwurf fĂŒr den zu schneidenden Film ist hingegen irgendwo in meinen Unterlagen verschwunden, wo genau, weiss ich nicht. (Es ist auch nicht wichtig, denn ein neuer Schnittplan muss her, und das ist mein nĂ€chstes vordringliches Anliegen).

Der eben geschilderte Zustand meines Haiti-Materials, der vom ursprĂŒnglichen Projekt nichts mehr erkennen lĂ€sst, demonstriert in schlagender Weise die Wirkungsmacht der Vodoun-Mythologie (
). Angetreten war ich als KĂŒnstlerin—als eine, die Bestandteile der Wirklichkeit aufgreift und soweit manipuliert, dass daraus ein Kunstwerk entsteht, das meiner schöpferischen IntegritĂ€t entspricht. Am Ende aber bescheide ich mich bei dem Versuch, den inneren Zusammenhang einer RealitĂ€t möglichst getreu zu erfassen – einer RealitĂ€t, die mich gelehrt hatte die ihr eigene IntegritĂ€t anzuerkennen und meine Manipulationen zu unterlassen.“

Mit diesen Zeilen beginnt die New Yorker Filmemacherin Maya Deren ihre Abhandlung The Divine Horsemen: The Living Gods of Haiti (1953), die das einzige schlĂŒssige Zeugnis ihrer haitianischen Erfahrung bleiben sollte.(1) Das erwĂ€hnte Film-, Ton- und Fotomaterial hat Deren bis zu ihrem frĂŒhen Tod 1961 nicht mehr wirklich angerĂŒhrt. WĂ€hrend die Filmrollen von rund 6 Stunden LĂ€nge in den Anthology Film Archives (ĂŒbrigens in von Deren beschrifteten Kaffeedosen) aufbewahrt werden und zu Staub zu zerfallen drohen, befinden sich die Tonspulen sowie die Fotonegative heute in der Howard Gotlieb Library der UniversitĂ€t Boston. Derens opus magnum ist mit anderen Worten ein gewaltiges Fragment, eine Baustelle, die, will man Deren folgen, einerseits das Scheitern eines dezidiert modernistischen Entwurfs bezeugt. Andererseits liegt in diesem Scheitern wohl ein SchlĂŒsselmoment begrĂŒndet, das jede transkulturelle Erfahrung auszeichnet. Dieses SchlĂŒsselmoment ist der Abgrund, ĂŒber den das “trans” (das bekanntlich â€œĂŒber” oder “zwischen” bedeutet) seine mehr oder weniger prekĂ€ren BrĂŒcken spannt. In diesen Abgrund hat Deren auf Haiti nicht nur geblickt. Sie hat ihm im letzten Kapitel der Divine Horsemen auch ein literarisches Denkmal gesetzt, indem sie ihre eigene Inbesitznahme durch eine loa im Rahmen einer Vodoun-Zeremonie beschreibt.

Derens urprĂŒnglicher Entwurf, der sie 1947 zum ersten Mal nach Haiti gefĂŒhrt hatte, galt einem Film, der Rituale aus den verschiedensten kulturellen ZusammenhĂ€ngen formal verknĂŒpfen sollte. Dabei war die karibische Insel nur ein Bezugspunkt unter anderen; Deren hatte beispielsweise auch Kinderspiele in westlichen Gesellschaften im Sinn. Mit ihrer anthropologischen Neugier, die sich auf die Dramatisierung kultureller Muster in TĂ€nzen und Zeremonien richtete, stand Deren im kĂŒnstlerischen Milieu der 1940er Jahre in New York nicht allein da. Die Mythenforschung oder, allgemeiner gesprochen, die PrĂ€gekraft unbewusster kultureller Muster spielte im (exilierten) surrealistischen Umfeld eine wichtige Rolle; die mythische Spekulation (samt der Sehnsucht, neue Mythen zu schaffen) prĂ€gte wiederum die kĂŒnstlerischen Manifeste eines Barnett Newman oder Mark Rothko. FĂŒr Deren entscheidender aber war die Forschung der Anthropologin und Choreographin Katherine Dunham (1909-2006), fĂŒr die Deren Anfang der 1940er Jahre als SekretĂ€rin tĂ€tig war. Dunham hatte Tanzformen als Medium der religiösen EntĂ€usserung oder possession innerhalb der afrikanischen Diaspora der Karibik studiert, und dazu Mitte der 1930er Jahre mehrere Monate auf Haiti verbracht.(2)

PrĂ€gend fĂŒr Derens Haitiprojekt war ferner der Austausch mit zwei Pionierfiguren der visuellen Anthrophologie, mit Margaret Mead und Gregory Bateson.(3) Beide hatten in den 1930er Jahren Film und Fotografie systematisch bei Feldforschungen auf Bali eingesetzt. Dieses Bali-Material hat Deren nicht nur eingehend studiert; Bateson war sogar bereit, es Deren fĂŒr ihre Ă€sthetischen Zwecke zu ĂŒberlassen. TatsĂ€chlich erschliesst sich Derens ursprĂŒngliche Inspiration aus einem Briefwechsel, den sie 1946 mit Bateson ĂŒber die anthropologische Ausstellung Arts of the South Seas im New Yorker Museum of Modern Art fĂŒhrte. So schreibt sie:

TatsĂ€chlich schĂ€tzt Du an der Ausstellung, dass jede Konstellation von Materialien der individuellen Kultur, die sie reprĂ€sentierte, gerecht wurde, wĂ€hrend diese Konstellationen zugleich so angeordnet und zueinander in Beziehung gesetzt wurden, dass sie ein “sinnliches” Muster ergaben, dass sie zwar alle ĂŒberstieg, sie in ihrer jeweiligen Besonderheit aber zugleich stĂ€rkte. Auf dieses Konzept von Beziehungen möchte ich meinen Film aufbauen
(4)

Und konkreter auf ihr Filmprojekt bezogen:

Ich sah mich gewissermassen vor der Herausforderung, eine Fuge der Kulturen zu komponieren. Jede einzelne Stimme darin sollte ihre melodische IntegritĂ€t bewahren können. Meine anschliessende Suche nach Kulturen, die sich ihre Einheitlichkeit erhalten konnten, war also nicht von irgendeinem persönlichen Interesse an Exotismen geleitet. Es war vielmehr bestimmt von der Notwendigkeit ĂŒber eine Vielheit einheitlicher Strukturen zu verfĂŒgen, die sich im Film eher aufeinander beziehen als dass sie miteinander verschmelzen.(5)

Derens Gedanken kreisten mithin um das Problem, wie sich fremde Kulturen, sei es museologisch oder filmisch, ausstellen lassen. Dabei suchte sie das Besondere einer jeden Kultur auf der Basis des Vergleichs oder, besser noch, der Kommunikation der Formen zu erfassen. ZunĂ€chst hatte Deren, wie schon festgestellt, kein genuines Interesse an Haiti anders denn als Beispiel einer „einheitlichen Struktur“. Die KomplexitĂ€t der politischen Landschaft Haitis begann sich ihr erst zu erschliessen, nachdem sie mit ihren 18 Kisten und Koffern an Land gegangen war.

II.

Ende des 15. Jahrhunderts hatten die Spanier unter Kolumbus eine Karibikinsel kolonisiert, der sie den Namen Hispaniola gaben. Den Westteil dieser Insel (das heutige Haiti) trat Spanien 1679 im Zuge innereuropĂ€ischer Auseinandersetzungen offiziell an Frankreich ab, das dieser neuen Kolonie den Namen Saint-Domingue gab. Saint-Domingue wurde zum Pilotprojekt der eher spĂ€t einsetzenden französischen Kolonialpolitik unter Ludwig XIV, dem sogenannten „Sonnenkönig“. Im Jahr 1685 erliess Ludwig XIV. den Code Noir, ein umfassendes gesetzliches Rahmenwerk, das den Begriff der „Rasse“ einfĂŒhrte, um den Umgang mit der Sklaverei in den französischen Kolonien zu regeln. TatsĂ€chlich wurde die Sklavenwirtschaft als Grundvoraussetzung fĂŒr den proto-industriellen, enorm arbeitsintensiven Anbau von Zuckerrohr betrachtet. Saint-Domingue produzierte bald 40% des europĂ€ischen Zuckerbedarfs (und rund 60% des europĂ€ischen Kaffeebedarfs), und wurde zur reichsten Kolonie der damaligen Welt. (Wer sich jemals gefragt hat, wie sich Versailles finanzieren liess, erhĂ€lt hier die Antwort). FĂŒr die Plantagenbewirtschaftung wurden im Rahmen des atlantischen Dreieckshandels pro Jahr zwischen 10.000 und 40.000 Sklaven von der afrikanischen WestkĂŒste nach Saint Domingue geschafft. Um die Zeit der französischen Revolution (1789) lebten rund eine halbe Million Sklaven in der Kolonie. Die Anzahl der weißen Kolonialherren belief sich demgegenĂŒber auf rund 30.000 Personen, dazu kamen einige Zehntausende gens de couleur, die afrikanisch-europĂ€ischer Verbindungen entstammten und gewisse Freiheits- und Besitzrechte ausĂŒben konnten.

Nach vielen kleineren AufstĂ€nden, die zumeist von Gruppen entflohener Sklaven angezettelt wurden, kam es 1791 zur Revolution auf Saint-Domingue. Diese Revolution, inspiriert in hohem Masse vom Gedankengut der französischen Revolution, obwohl der eigentliche Auslöser eine Vodoun-Zeremonie war, wurde weltweit als epochales Ereignis registriert: im europĂ€ischen Denken der Zeit war nicht vorgesehen, dass sich Sklaven selbst befreien.(6) WĂ€hrend die Girondisten in Paris die Revolution begrĂŒssten und die französischen ReprĂ€sentanten vor Ort die Abschaffung der Sklaverei 1793 akzeptierten, versuchten die Briten ab 1794 die politische Konfusion auf Saint-Domingue zu nutzen, und wurden bei ihrem Besatzungsversuch von weiten Teilen der weissen und gemischten Elite unterstĂŒtzt.

Erst 1800 gelang es dem afrikanischstĂ€mmigen HeerfĂŒhrer Toussaint-Louverture die Briten zu schlagen. 1802 schickt Napoleon ein Heer nach Saint Domingue, um die „Perle der Antillen“ zurĂŒckzuerobern. Zu diesem Heer zĂ€hlten auch polnische Legionen. Obwohl es den Franzosen gelang Toussaint-Louverture zu fangen, siegten die einheimischen Truppen unter ihrem neuen AnfĂŒhrer Dessalines im Jahr 1804 – nicht zuletzt, weil viele europĂ€ische Soldaten dem gelben Fieber zum Opfer gefallen waren. Die polnischen Legionen, oder was von ihnen ĂŒbrigblieb, lief zu den neuen Machthabern ĂŒber. 1805 schliesslich proklamierte Haiti seine UnabhĂ€ngigkeit und gab sich eine Nationalflagge, indem es den mittleren, den „weissen“ Balken aus der Trikolore eliminierte. 1838 verlangte die französische Republik als Preis fĂŒr die offizielle Anerkennung der UnabhĂ€ngigkeit Haitis das heutige Äquivalent von US-Dollar 19 Milliarden – ein Schuldendienst, welcher die Entwicklung des komplett abgewirtschafteten Landes vollends hemmte und erst 1947 eingestellt wurde. Heute gilt Haiti als das Ă€rmste Land der westlichen HemisphĂ€re; 75% der Bevölkerung haben pro Tag weniger als 2 US-Dollar zur VerfĂŒgung.

III.

Dieser kurze historische Abriss lĂ€sst erahnen, dass Deren auf Haiti alles andere als eine „einheitliche Struktur“ vorfand. Allein die Formen des Vodoun speisten sich aus den Traditionslinien unterschiedlichster afrikanischer Volksgruppen, und hatten sich wĂ€hrend des Kolonialregimes darĂŒberhinaus mit römisch-katholischen sowie freimaurerischen Figuren und Symbolen angereichert. Ein gutes Beispiel dieser Art Verflechtungen bietet die Vodoun-Fahne in unserer Ausstellung. Das aus Pailletten gestickte Bild zeigt auf goldenem Grund Erzulie Dantor, eine wichtige Figur in der Geisterwelt des Vodoun, die zugleich Mutterschaft und Krieg reprĂ€sentiert. Mit dem blutenden Herz erinnert die Gestalt an eine Marienikone; sie trĂ€gt aber auch Waffen. Darstellungen Erzulies haben ferner ein charakteristisches Attribut der schwarzen Madonna von Częstochowa ĂŒbernommen: zwei tiefe Kerben in der linken unteren GesichtshĂ€lfte, die der polnischen Ikone im Mittelalter durch Schwerthiebe zugefĂŒgt worden waren. Lithographische Reproduktionen der schwarzen Madonna von Częstochowa migrierten damals in den Brusttaschen der von Napoleon gesandten polnischen Legionen nach Haiti und konnten, nachdem die Polen die Seiten gewechselt hatten, in das haitianische Formenrepertoire einfliessen.(7)

IV.

Deren hat auf die KomplexitĂ€t der Situation, die sie auf Haiti vorfand, unmittelbar reagiert. Das gefilmte Material lĂ€sst erkennen, dass sie sich rasch von jeder ethnografischen Perspektive löste und sich der Immanenz der Zeremonien – ihrem Rhythmus, ihrem Regelwerk, aber auch ihrer improvisatorischen Methode – ĂŒberantwortete. Sie setzte ihre Persönlichkeit ein, um mit den haitianischen Persönlichkeiten auf Augenhöhe zu verkehren – nicht als „teilnehmende Beobachterin“, wie sie das von Bateson und Mead kannte, sondern als nahezu subjektloses, eben nicht erkenntnis- oder interessengeleitetes Element eines Erfahrungszusammenhangs, das allerdings ĂŒber eine Kamera verfĂŒgte.

 

1) Maya Deren, Vorwort der Autorin zu ihrem Divine Horsemen: The Living Gods of Haiti, New York: McPherson&Company (2004 [1953]), S. 5-6.

2) Siehe Katherine Dunham, Dances of Haiti, Los Angeles: UCLA Center for Afro-American Studies (1983), S. 41-57.

3) Siehe Sylvie Chakkalakal, “Margaret Meads Anthropologie der Sinne – Ethnografie als Ă€sthetische und aisthetische Praxis,” in: Zwischen Objekt, Text, Bild und Performance: ReprĂ€sentationspraktiken ethnografischen Wissens, Berlin: Panama (im Erscheinen). Chakkalakal war fĂŒr die Recherche zu Deren, Mead and Bateson verantwortlich, die auf verschiedenste Weise in diese Ausstellung eingeflossen ist.

4) “An Exchange of Letters between Maya Deren and Gregory Bateson”. October, Vol. 14 (Autumn 1980), S. 16-20 (hier S. 16). Der Brief Derens datiert vom 9. Dezember 1946.

5) Ebd.

6) Siehe Susan Buck-Morss, “Hegel and Haiti”, in: Critical Inquiry 26 (Summer 2000), S. 821-865.

7) Siehe Sebastian Rypson, Being Poloné in Haiti: Origins, Survivals, Development, and Narrative Production of the Polish Presence in Haiti, Warschau: Wydawca (2008), S. 82-90. Den Hinweis auf dieses Buch gab uns freundlicherweise Adam Szymczyk.

 

Mit großem Dank an Martina Kudláček fĂŒr vielfĂ€ltige Hinweise sowie Objekte aus ihrer Deren-Sammlung, an das Anthology Film Archives und an Jonas Mekas.

 

»Any distance between my camera and the scene which I am shooting makes me strangely uneasy... The less room I have, the safer I am.«